Liebe Coquelicot, du hast gefragt, wie ich einen Schreibspaziergang mache und ob mir bei starkem Wind nicht die Gedanken davongeweht werden?
Nein, sie werden mir nicht davongeweht, vielmehr entstehen sie erst. Ohne Spaziergang hätte ich am Lago Maggiore im Sommer 2013 in meinem Notizbuch vielleicht nur festgehalten: Es stürmte. Doch mit Spaziergang finde ich interessante Ereignisse, treffende Worte, aktive Verben, gelungene Szenen und Ideen zum Weiterarbeiten. Folgendes habe ich notiert:
„Ich sitze in Maccagno: Strahlend blauer Himmel, der Wind bläst mir mit Böen bis zu acht Windstärken ins Gesicht und zerzaust mir die Haare. Surf-Cracks brettern über den See, während die Sonne langsam hinter dem Monte Carza verschwindet. Mir kommt ein Gedicht von Hilde Domin in den Sinn „Windgeschenke“ heißt es. Nun ist es nicht gerade der zarte Wind, der hier bläst, aber für die Surfer ist er ein echtes Geschenk.
Für andere ist er eher lästig: Er zerrt an den Handtüchern der Badegäste, bläst Strohhüte davon und blättert wüst in den mitgebrachten Zeitungen und Büchern. Überall liegen abgebrochene Äste und ich höre, dass in Luino der Sturm in der Nacht fünf Segelboote aufeinandergeschoben und ruiniert hat.
In meiner Schreibausbildung hieß es, Themen lägen auf der Straße, man müsse sie nur aufheben. Damals reagierte ich auf dieses „Weisheit“ sehr ungläubig, doch sie hat sich über die Jahre immer wieder bewahrheitet. So auch jetzt.
Während ich hier sitze, reißt der Wind einer jungen Frau einen Brief aus der Hand und bläst ihn davon. Aufgeregt springt sie ihm hinter her, greift in die Luft, stolpert über einen Ast, fängt sich auf, macht einen erneuten Fangversuch, nur um zu merken, dass der Wind schneller ist als sie. Während einer kleinen Windpause gelingt es ihr schließlich doch noch, den Brief zu erwischen. Sichtlich erleichtert hält sie ihn in den Händen und ich frage mich: War es ein Liebesbrief? Hatte Sie ihn schon ganz gelesen oder war Sie noch am Anfang? Was wäre passiert, wenn er auf den See hinaus geweht worden und auf Nimmerwiedersehen verschwunden wäre?
Man könnte einen ganzen Roman auf dieser Szene aufbauen; auch für einen Berufskomiker wäre diese Szene sicherlich eine feine Anregung. Dabei fällt mir ein, dass Dario Fo, italienischer Schriftsteller und Kabarettist, hier gelebt und ist seit 1997 Nobelpreisträger für Literatur. Ich überlege, ob ich morgen nach Pino Tronzano fahre und mir den Ort anschaue, in dem er seine Kindheit verbracht hat. Außerdem nehme ich mir vor, seinen humorvollen Stil einmal genauer anzuschauen; sicherlich lässt sich von ihm einiges lernen.
Inzwischen ist die Sonne endgültig untergegangen. Die letzten Badegäste packen ihre Taschen, ein Surfer schält sich aus seinem Neopren-Anzug und ich bin froh, für heute Nacht ein Hotelzimmer zu haben. Denn der Wind und der Wetterumschwung erinnern mich plötzlich an meine Wanderung auf La Palma. Vom Süden kommend, hatte ich tagelang Hitze gepürt und dann auf einmal pfiff mir der Nordost-Passat um die Nase, zauberte mir in der Outdoor-Dusche eine ordentliche Gänsehaut und ließ mich noch vor Einbruch der Dunkelheit im warmen Schlafsack verschwinden.“
Leseempfehlung:
Eine Liste über Winde und Windsysteme unserer Erde findet sich unter
http://de.wikipedia.org/wiki/Winde_und_Windsysteme
Windgedichte finden sich unter
http://gedichte.xbib.de/Wind_gedichte_recherche.htm
Dario Fo: Meine ersten sieben Jahre und ein paar dazu.
Köln 2005: KiWi-Taschenbuch.